Zielgruppe und Leser-Identifikation – Versuch einer Zuordnung

Kolumne_allg_02aVon Brunhilde Witthaut

Lieber Autor, bevor Sie Ihre Geschichten entwerfen, sollten Sie sich Gedanken über die Zielgruppe machen, die Sie erreichen möchten. Wie sind Ihre Leser gestrickt? Was könnte welchem Leser gefallen? Gibt es ihn überhaupt – den Leser?

Hierbei ist zu beachten, dass Leser sich gern mit Protagonisten identifizieren, manche mehr, manche weniger. Wer Männer erreichen möchte, sollte die Drama-Queen  allerhöchstens als running gag auftreten lassen. Wer für junge weibliche Leser schreibt, sollte Details über die Raketenballistik russischer Atom-U-Boote recht knapp halten. Dazwischen gibt es Rand- und Splittergruppen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte.

Um Ihnen die Suche nach Ihrer Zielgruppe zu erleichtern, habe ich mich daran gemacht, die Leser/innen in verschiedene Klassifikationen einzuteilen. Vielleicht ist etwas für Sie dabei.

 

Lesertyp A – der Kampfschmuser:

Anteil an der gesamten Leserschaft: gefühlte 60 %, Geschlecht: vorwiegend weiblich

Dieser Typ liebt romantische, erotische Geschichten ohne schrille, technische Aktion. Ihr Identifikationspotenzial ist äußerst hoch. Dieser Typus kriecht sozusagen in die Figuren hinein, was gut an den Bewertungen auf Amazon zu erkennen ist. Beispiele: „Ich habe sooo geweint.“ „Ich liebe deine Bücher!!! Alex/Eric/Tom ist soooo süß!!!“ (Hä?! Hat die keinen Kerl? Anmerk. d. Kolumnistin). Der Kampfschmuser ist suchtgefährdet, also immer auf Nachschub aus und bildet damit die Lebensgrundlage vieler Autoren.

Tipp: Schreiben Sie herzzerreißende Liebesgeschichten, in denen zarte Frauen sich mit gutaussehenden/erfolgreichen/durchtrainierten/neurotischen Helden wie Bankiers/Navy-Seals/Footballspieler verbandeln. Achten Sie auf ausreichend Eifersuchts- und Sex-Szenen.

Nachteil: Um diese größte Zielgruppe führen bereits etliche Autoren einen erbitterten Kampf. Falls Sie noch keinen Namen haben oder bei Rache-Rezis empfindlich sind, könnten Sie in diesem Haifischbecken untergehen.

Lesertyp B – der Figuren-Versteher

Anteil an der gesamten Leserschaft: geschätzte 40 %, Geschlecht: gemischt

Bewertungen von Figuren-Verstehern zeichnen sich durch folgenden Beispielsatz aus:

„Ich konnte mit der Hauptfigur nicht richtig warm werden, vergebe aber trotzdem 4 Sterne.“

Ihr Identifikationspotenzial ist durchaus vorhanden, der Fokus liegt jedoch auf einer „richtigen“ Geschichte. Verzeihen wir ihm. Welcher Leser wird sich schon mit Süßkinds Grenouille identifizieren wollen? Doch verstehen können ihn viele. Wer möchte schon so aussehen wie Hercule Poirot oder Miss Marple, doch ihre Fälle werden gern verfolgt.

Tipp: Schreiben Sie literarische Beststeller mit historischem oder fantastischem Hintergrund (kleine Menschen mit behaarten Füßen, die Goldringe lieben, schmächtige Jungen mit Brille und zernarbter Stirn). Schreiben Sie schrullige Krimis oder etwas über Wissenschaftler, die im Louvre geheime Botschaften aus Renaissance-Gemälden herauslesen, die den Vatikan in Bedrängnis bringen könnten.

Nachteil: erhöhter Arbeitsaufwand bei literarischen Werken. Dieser Lesertyp verzeiht Banalität nicht so schnell. Jedes Komma sollte geistreich und gut überlegt eingesetzt werden.

Lesertyp C – der Adrenalinjunkie

Anteil an der gesamten Leserschaft: vermutete 40 %, Geschlecht: vorwiegend männlich.

Diesem Lesertypus kann es nicht effektreich genug sein. Er liebt Flugzeugabstürze, Bombendrohungen, Massaker, rasante Verfolgungsfahrten. Er liebt den psychischen und physischen Thrill. Identifikationspotential: schwach ausgeprägt oder nicht vorhanden.

Tipp: Schreiben Sie über gefällig angeordnete, grausam zugerichtete Leichen in südschwedischen Kleinstädten, entwerfen Sie kaputte, drogenzerfressene Kommissare, sprengen Sie den Vatikan in die Luft oder werden Sie Game-Entwickler.

Nachteil: a) Recherche in Schweden oder Rom ist teuer/aufwändig/zu kalt/zu heiß/ zu viel Mücken.  b)Sie hassen PC-Spiele.

Lesertyp D – der Verweigerer

Anteil an der gesamten Leserschaft: 0,5 %

Dieser Lesertyp ist gar kein Leser, ätsch! Er outet sich auf Facebook gern durch Aussagen wie: „In der Schule mussten wir „Der Schimmelreiter“/„Das Parfum“/„Macbeth“ lesen.“

Tipp: Wechseln Sie zur TV-Sparte und werden Sie Drehbuchautor.

Nachteil: ähnliches Gefahrenpotential wie bei Typ A (Haifischbecken)

 

Lieber Autor, Sie haben es gemerkt – es ist nicht einfach, Ihre Geschichten einem dieser Typen zuzuordnen.

Fazit: Lehnen Sie sich einfach entspannt zurück und schreiben Sie über Helden, mit denen Sie sich aus vollem Herzen identifizieren können. Das macht Spaß – und vielleicht kommen die Leser von ganz allein.

In diesem Sinne ein erfolgreiches 2015!

 

2 Replies to “Zielgruppe und Leser-Identifikation – Versuch einer Zuordnung”

  1. Patricia Jankowski

    Dankeschön, das war jetzt herzerfrischend!
    Wieder einmal ein Ratgeber, der keiner ist 😛
    Autoren, die für eine bestimmte Zielgruppe schreiben, soll es ja bekanntlich tatsächlich geben, aber da braucht man ein dickes Fell.
    Zum einen wegen des von dir erwähnten Haifischbeckens, zum anderen, weil es harte Arbeit ist, immer den gleichen Mist zu schreiben. Siehe hierzu das Schreiben von Groschenromanen ;o)
    Ich mag die Qindie-Kolumnen, sie sind so herrlich erfrischend!