Prologeritis – Symptome und Behandlungsmöglichkeiten [Kolumne]

Von Susanne Pavlovic

Prolog

Sandra stand am Fenster und starrte in die Dunkelheit. Mit dürren Fingern kratzte der kahle Kirschbaum von außen gegen die Scheibe. Der Regen weinte dicke Tränen, die träge das Glas hinunterliefen. (1)

Sandra streckte die Hand aus und folgte einem besonders dicken Tropfen mit dem Zeigefinger, bis sich dieser an einer Unebenheit im Glas verfing. Für einen Augenblick sah er aus wie ein Herz. bevor er entzweiriss und sich als zwei dünne Tränenspuren im Nichts auflöste. (2)

Love by Michael Pohl

Love by Michael Pohl

Sandras Faust schloss sich um den Brief. Hatte sie sich richtig entschieden? Herbert war ein herzensguter Mann, der ihr alles zu Füßen legte, aber er war nun mal ein Staubsaugervertreter und lärmte nur immerzu in den Grenzen seines engen Horizonts. Carlos dagegen – Widerstandskämpfer auf Kuba! Doktor der Atomphysik in der Schweiz! Und wie er küssen konnte! (3)

Sollte sie Herbert den Brief geben? Ihn wirklich für Carlos verlassen, für eine ungewisse Zukunft an der Seite eines Mannes, der ihr von Anfang an klargemacht hatte, dass sie immer hinter seiner politischen Arbeit zurückstehen musste, dass sie ihn gehen lassen musste, wenn seine Berufung ihm vorschrieb, sich auf Schienen oder an Atomkraftwerke zu ketten?

War sie lieber eine Königin im Land der Staubsauger oder eine Magd im Reich der Weltverbesserer? (4)

Sie atmete tief durch und strich ihr blondes, lockiges Haar über die Schulter zurück. Sie hatte sich entschieden. (5)

Kapitel 1

Die Ampel wollte nicht grün werden. Jonas scharrte ungeduldig mit den Füßen… (6)

 

Zugegeben. Das ist kein „echter“ Prolog, sondern sozusagen die Mutter aller Prologe, ein Proto-Prolog, zusammengekocht aus allen Prologen, die mir in den letzten Jahren so untergekommen sind (und ein bisschen nachgewürzt).

Nachfolgend mal so ungefähr die Gedanken eines typischen Lesers, dem man einen solchen vorsetzt:

(1) Was gibt es da draußen zu sehen? Das Wetter ist gruselig. Bestimmt kommt gleich ein Schocker! Etwas klatscht von außen gegen die Scheibe. Äktschen!

(2) Oder auch nicht.

(3) Oh my. Frau denkt über zwei Kerle nach. Ich kenne die Frau doch gar nicht! Was soll ich mich für ihre Liebesdinge interessieren?

(4) Is mir wurscht.

(5) Blond ist nicht die Erklärung für alles.

(6) Jonas? Warte mal… die Typen hießen Herbert und Carlos, also who the ffff… is Jonas?

Die (Proto-)Autorin, die diesen (Proto-)Prolog schreibt, steckt bis zu den Haarspitzen in ihrer Sandra drin. Vermutlich hat sie eine echt komplexe Dreiergeschichte aufgebaut, die Charaktere fein ausgearbeitet, sowohl Herbert als auch Carlos sind echte Alternativen, und vielleicht hat sie beim Schreiben wirklich mit der zerrissenen Sandra mitgelitten. Sandras einsame Entscheidung am klischeeüberladenen Fenster ist ein Kulminationspunkt vieler dramatischer Ereignisse. Die Autorin vergisst nur leider, dass die Leserin von all dieser Dramatik nichts weiß. Leserin und Sandra verbindet ungefähr so viel wie Leserin mit Frau neben ihr in der U-Bahn. Nichts. Sie kennen sich nicht mal. Und man interessiert sich normalerweise nicht sonderlich für das Liebesleben und die Gedanken von Leuten, die man nicht kennt – das ist bei Romanfiguren nicht anders.

ZaubererWürde die Frau in der U-Bahn plötzlich ihren Mantel abstreifen, darunter ein Clownskostüm oder wahlweise Reizwäsche tragen und mitten in der U-Bahn eine Zaubernummer oder wahlweise einen Pole-Dance starten, dann würden wir uns schon sehr viel mehr für sie interessieren. Denn Handlung ist es, was Figuren interessant macht, nicht monologisierte Gedankengänge (und das ist bei echten Menschen nicht anders).

Würde Sandra also mit einem gezielten Handkantenschlag die betränte Scheibe zertrümmern und sich in die dürren Zweige des Baumes schwingen und von dort aus auf das Dach des Nachbarhauses, dann bliebe (neben der Frage nach dem Sinn) immer noch die Frage nach dem Prologstatus.

Ein Prolog ist etwas, das eigentlich nicht zum Text gehört. Es soll dem Leser einen Wissensvorsprung verschaffen. In der griechischen Tragödie wurden im Prolog die handelnden Figuren vorgestellt und schon mal der Grundkonflikt klargemacht. Der Zuschauer bekam also definiert, unter welchen Vorzeichen er das folgende Stück zu betrachten hatte, damit er dann auch die richtigen Lehren daraus zog. Inhaltlich bezog sich der Prolog also auf das Stück; formal gehörte er eigentlich nicht richtig dazu.

Die meisten Prologe, die ich so lese, dienen eigentlich nur dazu, der Autorin den Weg in ihren Text hinein zu zeigen. Sie weiß nicht genau, wo die Geschichte anfängt, kennt vielleicht ihre Figur noch nicht so gut und nutzt den Prolog, um mit der Umgebung warm zu werden. Dagegen ist nichts zu sagen. Wem das hilft, der soll beruhigt einen Prolog schreiben – und ihn dann in der Endfassung des Werkes beherzt wieder rausschmeißen. In eine Endfassung gehören nur Elemente, die der Handlung oder dem Leser dienen. Die Baugerüste und Hilfsleitern der Autorin müssen vollständig und restlos entfernt sein.

Im Zweifel gilt: Immer raus damit. Ein Prolog ist letztlich ein Lesehindernis. Die Leserschaft hat es im Gefühl, dass er nicht richtig dazugehört, viele Prologe werden schlicht überblättert, um mit dem eigentlichen Buch anzufangen.

Sie haben einen Prolog geschrieben? Keine Sorge, dagegen kann man etwas tun.

Fragen Sie sich peinlich ehrlich, ob der Prolog nötig ist, um die Handlung zu verstehen. (Handlung. Nicht Figurenhintergrund, Gemütslage, Kindheit.) Ist er nötig: Machen Sie Kapitel Eins draus. Ist er nicht nötig: Schmeißen Sie ihn raus.

Wenn Sie sich schwer trennen können, verschieben Sie ihn in ein Dokument mit „entfallenen Szenen“. Einem interessierten Publikum können Sie solche Schnipsel auf Ihrer Webseite als kostenlose Lektüre anbieten.

E-Book-Veröffentlicher sollten auch bedenken, dass der „Blick ins Buch“ bei Amazon vorne anfängt. Ein Stück geht für Deckblatt und Titelei drauf. Wenn dann erst noch der Prolog kommt, in dem nichts Entscheidendes passiert, wie wollen Sie potentielle Leser davon überzeugen, dass Ihr Buch spannend, packend, leidenschaftlich ist? Genau. Also: Immer rein in die Vollen, und vergessen Sie Prologe. Ihre Leser werden es Ihnen danken.

Susanne Pavlovic