»Made by Legastheniker« – das neue Gütesiegel.

mittwoch bergwerkVon Jacqueline Spieweg

Faul oder dumm – wenn nicht beides.

Legastheniker werden früher oder später mit dieser »Diagnose« konfrontiert. Die meisten früher. Von ihren Klassenkameraden, manchmal auch von ihren Lehrern. Es beginnt im ersten Schuljahr und am Ende ihrer Schulzeit bekommen sie den Rat: Such dir einen Beruf, bei dem du nicht schreiben musst. Nebenbei bescheinigt ihnen die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine »psychische Störung«. Also faul, dumm und plemplem. Klingt danach, als sollte man auf keinen Fall Autor werden.

Einige Menschen vertreten die Ansicht, Rechtschreibung gehöre zum Grundhandwerk eines Schriftstellers und wer sie nicht beherrscht, sollte keine Bücher schreiben. Bevor wir einen Blick in den Kopf eines Legasthenikers werfen, will ich kurz zu dieser Aussage Stellung nehmen: »Bullshit!« Eine korrekte Rechtschreibung fördert den Lesegenuss. Genauso wie eine ansprechende Typografie und, beim eBook, eine gute Formatierung. Wenn ein Autor etwas davon nicht kann, dann muss er sich dafür Leute suchen. So einfach ist das.

 

Legasthenie ist weder Dummheit noch Faulheit noch eine psychische Störung, sondern Symptom einer anderen Art der Wahrnehmung und des Denkens. Wir alle denken auf zwei Arten, verbal und nonverbal. Bei Legasthenikern überwiegt das nonverbale Denken, es ist wesentlich schneller als das verbale.

»Ich betrat das Bergwerk.« Nur ein kurzer Satz. Das verbale Denken arbeitet in Lesegeschwindigkeit, also ca. 200 Worte pro Minute. Jedes Wort, jeder Buchstabe wird der Reihe nach wahrgenommen, »Bergwerk« wird verstanden, bleibt aber abstrakt. Das nonverbale Denken ist 400 bis 2000 Mal schneller. Es funktioniert assoziativ, gestaltet dreidimensionale Bilder, in dem die nonverbalen Denker nach Belieben herumwandern können. Noch bevor sie »Berg« geschrieben haben, sehen diese Menschen das Bergwerk und steuern gleichzeitig, was sie sehen. Was wird hier abgebaut? Kohle? Nein, es ist etwas anderes, sie haben einen metallenen Geschmack auf der Zunge. Es riecht brackig, die Luft ist abgestanden und kalt. In der Ferne ist ein stetes Hämmern zu hören.

Das alles, während sie »Berg« schreiben. Und noch vor »werk« fühlen sie die Eisenketten um ihre Fußknöchel, reißen ein Stück Stoff aus ihrem Hemd, um die vom Schürfen wunden Hände notdürftig zu verbinden.

Legastheniker können in Sekundenbruchteilen eine fiktive Welt erschaffen und in allen Einzelheiten wahrnehmen. Kein Wunder, dass dabei die richtige Anzahl und Reihenfolge der Buchstaben auf der Strecke bleibt. Späteres Korrekturlesen hilft da nicht. Sie sehen eine Welt, keine abstrakten Zeichen.

Einige berühmte Autoren waren Legastheniker: Ernest Hemingway, Agatha Christie, John Irving und Jules Verne, um nur einige zu nennen. Ich möchte den sehen, der behauptet, sie haben ihr Handwerk nicht beherrscht. Auch Albert Einstein, Galileo Galilei und Leonardo da Vinci versagten bei der Rechtschreibung. David Hilbert, einer der bedeutendsten Mathematiker der Neuzeit, konnte nicht kopfrechnen.

 

Nicht alle Legastheniker sind Genies, doch sie verfügen über die gleichen Talente.

  1. Sie benutzen die Fähigkeit des Gehirns, Sinneswahrnehmungen zu verändern und zu erzeugen (ihr Haupttalent).
  2. Sie nehmen ihre Umgebung sehr bewusst wahr.
  3. Ihre Wissbegier ist überdurchschnittlich.
  4. Sie denken vorwiegend in Bildern, nicht in Wörtern.
  5. Sie besitzen Scharfblick und starke Intuition.
  6. Ihre sinnliche Wahrnehmung und ihr Denken sind vielschichtig.
  7. Sie erleben Gedachtes wie real.
  8. Sie verfügen über eine lebhafte Fantasie.

 

Klingt für mich nach einer guten Ausgangsposition, um Autor zu werden.

 

»Made by Legastheniker – das neue Gütesiegel« ist natürlich überspitzt formuliert, doch ich hoffe, dass das Bewusstsein, sich in erlesener Gesellschaft zu befinden, allen Betroffenen Selbstvertrauen verleiht. Und den Engstirnigen, die immer noch behaupten: »Keine Rechtschreibung – kein Autor!«, will ich sagen, das Handwerk eines Schriftstellers ist nicht »Bergwerk« statt »Berkwerg« zu schreiben, sondern genau die Worte zu finden, um seinen inneren Film mit dem Leser zu teilen. Ohne Adjektivitis. Ohne Geschwafel. Manchmal reicht ein einziger Satz:

 

»Ich betrat das Bergwerk.«

Jacqueline Spieweg