Warum haben Schriftsteller eigentlich Angst vor dem Nachahmen?

Von Frederik Weitz

Man bezeichnet ja immer die Tätigkeit des Schriftstellers als ein Neuschaffen einer Welt, als eine herausragende Leistung eines kreativen Kopfes. Allerdings ist die Frage, was hier überhaupt erfunden wird. Schaut man sich die Geschichte der Literatur oder der Menschheit allgemein an, so gibt es zwar immer wieder Erweiterungen und auch Neuerungen, aber es ist recht schwierig zu sagen, dass diese durch einen einzelnen Menschen angestoßen worden sind.

Goethe und das Genie

Kolumne_allg_01Goethe zum Beispiel hat vieles nachgeahmt und sich in vielen verschiedenen Richtungen ausprobiert. Sein Genie hat eher darin bestanden, dass er ohne Vorurteile viele Einflüsse aufgenommen hat und diese dann zu jener unnachahmlichen Mischung zusammen getragen hat, die wir heute als typisch für Goethe empfinden (auch wenn Goethe die Schöpferkraft immer der Nachahmung entgegengesetzt hat). Nehmen wir zum Beispiel den Faust, Goethes wohl berühmtestes Theaterstück. In diesem fließen das Puppenspiel, das Goethe als Kind auf dem Marktplatz gesehen hat, das klassische Theater ebenso wie das barocke, das Volkslied und der Versmaß des antiken Epos, die Ideen der Aufklärung und der Aberglaube der Massenmedien zusammen. Fragt man nach dem Ursprung des Genies, das Goethe hier gezeigt haben soll, so müsste man diese nicht in den einzelnen Ideen suchen, sondern in der Mischung dieser Ideen.

Elektrophysik und Mechanik

Goethe war nicht der einzige, der seine Genialität und seine Lust zur Nachahmung verband. Die Menschheit verdankt eine der wichtigsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts genau diesem Geiste. Dem Geist von Albert Einstein. Im 19. Jahrhundert hatte die Physik riesige Fortschritte gemacht. Doch sie hatte sich auch in zwei nicht miteinander versöhnbare Richtungen entwickelt: die Mechanik und den Elektromagnetismus. Der Elektromagnetismus brauchte, um berechenbar zu sein, einen festen Punkt, an dem sich das ganze System aufhängen konnte. Dafür konstruierten die Physiker ein Element, das sie Äther nannten. Der Äther besaß eine konstante Geschwindigkeit von null. Dies stand im krassen Gegensatz zu dem, was die Mechanik als Grundlage behauptete: dass nämlich alles in Bewegung sei. Einstein nun fragte sich, warum der Äther denn unbedingt die konstante Geschwindigkeit von null haben müsse. Und entwickelte die Theorie, dass der Äther vor allem eine Konstante sein müsse, deren Geschwindigkeit man noch nicht kannte. Also rechnete er herum, bzw. ließ seine Frau herumrechnen, und daraus entwickelte er die moderne Relativitätstheorie und die Lichtgeschwindigkeit.

Sinnlichkeit und Vernunft

Ein ähnlich grandioser Wurf gelang Immanuel Kant. Auch dieser griff zwei Strömungen auf, die lange Zeit widersprechende Lager in der Philosophie bildeten. Das eine waren die Idealisten oder Rationalisten. Laut ihnen kamen die Ideen vollständig aus dem Geist und die Welt war nur eine Spiegelung dessen, was der Geist seit jeher wusste. Das andere Lager wurde vor allem von den englischen Empiristen vertreten. Diese wiederum behaupteten, dass alles aus der Wahrnehmung entstünde, also auch die Ideen, die der Mensch habe. Nun hatten beide Lager ein Problem: während die Rationalisten nicht erklären konnten, wie sich der Mensch auf Neues einstellen konnte, konnten die Empiristen nicht erklären, worin sich der Mensch von seiner Umwelt unterschied. Kant vereinte diese beiden Strömungen, indem er die sinnliche Wahrnehmung als jene Fähigkeit bezeichnete, die uns den Inhalt unseres Denkens liefert, die Vernunft aber als jene Fähigkeit, die uns die Formen unseres Denkens ermöglicht; und so sind in jedem Gedanken sinnliche Wahrnehmung und vernünftige Form zugleich und können nur durch Reflexion geschieden werden.

Vampire und Zombies

Manche moderne Idee lässt sich historisch als ein sehr schillerndes Gewebe nachzeichnen. Nehmen wir zum Beispiel das große Interesse an Vampiren. Schaut man sich die Themen an, die hier mit dem Vampir in den Geschichten auftauchen, ist die Vielfalt verwirrend. Mal werden diese Vampirgesellschaften zu denselben Familienverstrickungen umgeformt, wie man sie aus der Fernsehserie Dallas kennt: dann handelt es sich um eine wenig originelle Darstellung einer aristokratischen Familie. Dies kann man sehr gut an der Fernsehserie The Vampire Diaries sehen. Twilight wiederum zitiert die verbotene und gefährliche Liebe. Wie in Wuthering Heights gibt es einen Mann, der ein dunkles Geheimnis in sich birgt und es ist an der Frau, dieses Geheimnis zusammen mit dem Leser zu ergründen und der Geschichte ein gutes Ende zu geben. Dann wiederum werden die Vampire zu hedonistischen Schmarotzern, wie in der Filmtrilogie Blade. Und so lassen sich zahlreiche weitere Abwandlungen und Variationen finden.

Historisch gesehen hat sich der Vampir aus verschiedenen Quellen entwickelt. Lange bevor Graf Dracula berühmt wurde, gab es in deutschen Volkssagen das bluttrinkende Gespenst, meist ein Rachegeist, der aus einer vergangenen Schuld sein unheiliges Leben nährte. In ganz alten Erzählungen lassen sich auch immer wieder antisemitische Spuren finden, die das Bluttrinken und die vermeintliche Geldgier der Juden zusammenbringen. Dracula schildert die tragische ewige Liebe im Gewand der schwarzen Romantik. Der Nosferatu von Murnau ist eine Allegorie auf den Kapitalismus und seine zerstörerischen Tendenzen. Und mancher Vampir in den Romanen von Anne Rice leidet ebenso unter der Weltentfremdung wie der moderne Mensch selbst.

Ebenso wurde der Zombie von Generation zu Generation anders dargestellt. Als er aus den karibisch-afrikanischen Mythen in die westliche Kultur kam, war er kaum mehr als eine Form der Besessenheit. In der westlichen Welt traf er auf die Idee des Maschinen-Menschen, die im 19. Jahrhundert in Form des Golems (Gustav Mayring) oder der Puppe Olympia (E.T.A. Hoffmann) die Leser fasziniert hat. Wir kennen die Wandlungen des Zombies zum wütenden Mob (28 Days After) oder zum besinnungslos Umhertanzenden (Night of the living Dead), schließlich zur Figur der Parodie (Shawn of the Dead) und zum Protagonisten des skurrilen Humors (A little bit Zombie). Auch dies greift moderne Strömungen auf. Zum Beginn des modernen Zombiefilms, Romeros Night oft he living dead, wird die vernunftlose, vom reinen Konsum gesteuerte Masse beschworen. Damit vermischen sich alte Spukgeschichten mit Gesellschaftskritik. 28 Days After praktiziert das ebenso, nur führt hier der Konsum nicht zu lähmender Besinnungslosigkeit, sondern zu einem aufgepeitschten Volkswillen nach einer politischen Hetzrede. Schließlich aber muss der Zombie auch zur lächerlichen Figur werden, wie einst der Nazi nicht nur die Figur der Tragödie gewesen ist, sondern in Der große Diktator (Chaplin) oder Sein oder Nichtsein (Lubitsch) der schmierige Komödiant, der nicht weiß, welche Rolle er spielt.

Mehr Nachahmung

All diesen Beispielen ist allerdings eins gemeinsam: Sie sind nicht aus sich heraus erfunden worden, sondern sind aus Mischungen von bereits vorhandenen Ideen und Tendenzen entstanden. Gerade mythische Figuren haben sich hier als sehr aufnahmefähig erwiesen. Es ist also kein Wunder, dass die Fantasy-Literatur sehr beliebt und sehr vielfältig ist. Und ähnlich ergeht es den einzelnen Schriftstellern. Joanne Rowling hat in ihrem Harry Potter zahlreiche Einflüsse gekreuzt und zu einer neuen Mischung verarbeitet; Michael Crichton hat das Genre des Spukhauses schlichtweg durch eine Insel mit Dinosauriern abgewandelt und so einen spannenden Wissenschaft-Thriller entworfen.

Es scheint, als ob die Angst der Schriftsteller vor der Nachahmung ungerechtfertigt sei. Eher könnte man sagen, dass Schriftsteller, die deutlich ein Original nachahmen, nicht zu viel, sondern zu wenig nachgeahmt haben. Woher auch sonst sollte der Schriftsteller seine Ideen haben, wenn nicht aus der Welt? Selbst die Fanfiction und all die Nachahmer unter den Schriftstellern greifen nur auf, was die Menschen seit jeher überliefert haben: sie eignen sich verschiedene Traditionen an und erschaffen daraus neue Mischungen.

Literatur

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Berlin 1997
Tarde, Gabriel: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt am Main 2009

Frederik Weitz