Dürfen Zeichnungen in Kinderbüchern realistisch sein? [Kolumne]

Von Mo Anders

Auf der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst schüttelten einige Vertreter der großen Kinderbuchverlage die Köpfe angesichts der Illustrationen zu meiner neuen Serie Die Reise der blauen Perle. Diese Zeichnungen würden bei Kindern nicht ankommen, da sie für eine Abenteuerserie zu wenig niedlich, zu wenig comic-haft wären.

Nene CSAber warum muss die Welt in Kinderbüchern immer verniedlicht oder vercomict werden? Ist sie nicht interessant genug? Nene, die Hawaiigans, war zur Mitte des letzten Jahrhunderts nahezu ausgestorben. Im Rahmen der umfassenden Schutzmaßnahmen für die nicht mal fünfzig verbliebenen Tiere ist die Nene zum hawaiianischen Staatstier ernannt worden. Da vermutlich die wenigsten jungen Leser jemals eine echte Hawaiigans vor Augen hatten, will ich sie in Die Reise der blauen Perle nach Hawaii nicht grinsend oder in Badeshorts mit Hibiskusblüten zeigen, sondern einfach so, wie sie ist.

Ich veröffentlichte die Abenteuerserie als Indie und war gespannt auf den Praxistest. Was würden Kinder, Eltern, Buchhändler und Blogger dazu sagen? Die Stimmen sind ermutigend, hier einige Auszüge aus den Buchbesprechungen:

„… Meiner Tochter gefiel dieses Buch so gut, dass sie es ihren Mitschülern/innen im Rahmen einer Buchvorstellung präsentierte. Die von der Autorin selbst erstellten Illustrationen geben dem Buch das gewisse Etwas. …“ (Angels Bücherecke),

„… Die Illustrationen gefallen mir besonders gut, sie sind eine tolle Ergänzung zum Text und lassen auch beim Lesen viele neue Bilder vor dem eigenen Auge entsehen. …“ (Nicky’s Bücherblog),

„… Die regelmäßigen und puristischen Illustrationen bieten Lesepausen und Vorstellung von den Pflanzen, Tieren, Landschaften, Traditionen, Gesten oder einer außergewöhnlichen Beförderungstechnik. …“ (Autorenfreiheit)

Eine Thalia-Buchhändlerin meinte: „Schöne Zeichnungen. Das ist mal was anderes.“ Eine neunjährige Testleserin schrieb: „Mir hat alles gefallen aber am Besten haben mir die Bilder gefallen.“

Selbstverständlich sind realistische Zeichnungen in Kinderbüchern nicht neu. Im Antiquariat oder auf dem Flohmarkt wimmelt es davon. Ich habe gegrübelt, warum Kinder die realistischen Zeichnungen in Die Reise der blauen Perle gut finden, entgegen der Einschätzung der befragten Publikumsverlage. Vielleicht, weil Kinder auch versuchen, so zu zeichnen?

Das ist keineswegs ein Plädoyer gegen die vielen fantastischen Zeichnungen auf dem Kinderbuchmarkt. Ich verneige mich tief vor brillianten Bilderbuch-Illustratoren wie Tomi Ungerer, Wolf Erlbruch oder Stefanie Harjes. Wer sich ein Bild von dem Erfindungsgeist und Einfühlungsvermögen der Kinderbuchillustratoren machen will, sollte nicht nur einen Blick in die Regale der Kinderbuchabteilungen werfen, sondern auch mal in den Portfolios der Illustratoren Organisation oder im Netz stöbern. Das ist ein Plädoyer für die Vielfalt.

Ich finde es grandios, dass heute ein Hund auch blau sein darf. Das war beispielsweise in der frühen Kinderbuchliteratur der DDR nicht selbverständlich. Doch muss die Hawaiigans auch blau sein oder einen Purzelbaum schlagen? Müssen Zeichnungen in Abenteuerbüchern immer niedlich oder comic-haft sein, wie Spielzeug für Mädchen rosa, lila oder pink ist?

Ist es berechtigt, dass realistische Illustrationen aus den heutigen Kinderbüchern nahzu verschwunden sind?

Was meint Ihr?

Mo Anders