§ 1 – Mein Gehirn gehört mir [Kolumne]

Von Regina Mengel

Als ich mich vor etwas mehr als drei Jahren entschieden habe, meinen Job hinzuwerfen und mich zum armen Poeten umschulen zu lassen, habe ich nicht erwartet, noch einmal in diese Situation zu geraten.

brain2§1 – Mein Gehirn gehört mir.

Wie sehr habe ich es genossen, selbst denken zu dürfen, für mich ganz alleine. Ein Traum, ein schöner Traum: Nie mehr mit der verqueren Gedankenstruktur irgendwelcher Chefs oder KollegInnen herumärgern. Pustekuchen, denkste Puppe. So kann man sich täuschen.

§2 – Sie sind überall.

Selbst bei der selbständigsten Tätigkeit, die ich mir vorstellen kann, nämlich der, mit der eigenen Fantasie ganze Welten zu erschaffen – eine Aufgabe, die ohne selbständiges Denken gar nicht denkbar wäre – begegnen sie mir: Diese Menschen, die eigentlich gar nicht wollen, dass ich selbständig denke und die sich redlich mühen, mir einzureden, das, was ich denke (oder sehe), sei falsch gedacht (oder eben falsch gesehen).

§ 3 – Verarschen kann ich mich alleine.

Als ich mich nun also so schön vor mich hin ärgere, über die Welt im Allgemeinen und meine Situation im Besonderen, da fällt mir ein Text ein, der vor drei Jahren – als selbständiges Denken gerade besonders verpönt war – auf einem spinatgrünen Plastikstuhl im Wartebereich des Arbeitsamts dringend aus mir raus musste. Die Alternative, irgendwen niederzuschlagen, erschien mir etwas unpassend.

Ich lese das Frustwerk heute also noch mal durch und was stelle ich fest? Passt immer noch – wie Arsch auf Eimer.

§ 4 – Denk doch einfach selbst.

Das nenne ich einen guten Rat, Prädikat: besonders wertvoll. Es ist ein zeitloser Rat, er verliert nie an Aktualität. Aber was red’ ich lange rum? Bildet euch doch einfach euer eigenes Urteil. Funktioniert natürlich nur, wenn ihr nicht gerade euer Gehirn am Eingang abgegeben habt. Hier also der „Ich-sitze-doof-im-Arbeitsamt-rum-und-ärgere-mich“-Text. Gut denk!

 

brain3Ach was, Sie denken noch mit dem Kopf? Empfinden Sie das nicht als unnatürlich? Also, ich an Ihrer Stelle würde einmal darüber nachdenken, wie das auf Fremde wirkt.

Ich schätze, Sie gehören zu diesen Individualisten, dieser aussterbenden Gattung von Menschen, die eine eigene Meinung oder noch schlimmer, einen eigenen Gedanken in die Welt setzen. Pfui, wie rücksichtslos Sie sind. Dabei wirken Sie doch auf den ersten Blick ganz normal. Was sich in Ihrem Kopf abspielt, möchte ich lieber gar nicht erst wissen, es ist einfach eine Zumutung, so etwas auf die Menschheit loszulassen.

Ach, Sie halten das für Unsinn, so schlecht sind Sie gar nicht? Vielleicht haben Sie Recht, ich möchte Ihnen natürlich keine bösen Absichten unterstellen, aber darum geht es nicht. Was zählt, ist das Ergebnis und das, entschuldigen Sie bitte meine Offenheit, ist in Ihrem Falle nun mal verheerend.

Wenn alle so denken würden wie Sie, wo kämen wir denn da hin? Bedenken Sie, Gedanken, die Sie denken, sind Gedanken, die zu bedenken niemand bedacht hat. Stellen Sie sich nur vor, der einfache Denker bedächte Ihre gedachten Gedanken, würden dann diese unbedachten Gedanken die vorgedachten Gedanken bedenkenlos ersetzen? Oder würden sich die vorgedachten Gedanken den neu bedachten, von Ihnen so unbedacht gedachten Gedanken, bedenklich unterordnen?

Bekommen Sie einen Eindruck? Was denn, Sie wollen immer noch frei denken? Gedanken sind schließlich dazu da, gedacht zu werden? Nun kommen Sie aber mal wieder auf den Teppich. So war das vielleicht früher einmal, als die Gedanken der Denkenden noch unbedenklich gedacht werden durften, aber dann hat doch jemand nachgedacht. Denn die Gedanken eines jeden Denkers sind differenzierte Gedanken, die zu denken viele weitere, vielleicht noch niemals bedachte, Gedanken nach sich ziehen. Ja, und wer soll nun alle diese angefangenen Gedanken zu Ende denken? Diese großartigen Denker, die gedachte Gedanken zu ihren eigenen Gedanken hinzudenken konnten, die aus den gemeinsam gedachten Gedanken ein weiter zu bedenkendes Gedankengemisch erdachten, um dann mit völlig neuen, noch unbedachten Gedanken ihre Gedankenwelt zu bereichern, die haben wir doch weggedacht.

Vorgedachte Gedanken sind nun mal viel einfacher zu denken. Denken Sie nur an die vielen kleinen Denker oder gar die Nichtdenker. Wie sollte ein Nichtdenker denn jemals Gedanken denken, wenn wir ihm nicht diese vorgedachten Gedanken an die Hand geben würden? Wir schaffen bleibende Gedanken. Der Nichtdenkende kann schließlich nur eine begrenzte Anzahl vorgedachter Gedanken bedenken. Also schaffen wir knappe, eingängige Gedanken, die kein weiterführendes Bedenken der Gedanken erfordern. Der Nichtdenker ist sogar in der Lage, mehrere Gedanken gleichzeitig zu bedenken. Wo denken Sie hin? Natürlich ist eine Verknüpfung dieser Gedanken nicht denkbar, dazu wäre ein selbst gedachter Gedanke notwendig. Das Selbstdenken von neuen Gedanken ist aber für den Nichtdenker nicht denkbar. Dieses Risiko können wir demnach ausschließen.

Sie haben mich verstanden? Na endlich. Ich bin in Gedanken bei Ihnen, wenn Sie gedenken, sich von Ihren eigenen Gedanken zu verabschieden. Nein, es ist nicht schmerzhaft, keineswegs. Denken Sie einfach zukünftig daran, wenn Sie spüren, wie Sie neue  oder eigene Gedanken beim Denken der vorgedachten Gedanken erdenken.

Denken Sie nicht mit dem Kopf!
Denken Sie mit dem Arsch!
Und Ballast spülen wir einfach hinunter!

Regina Mengel